Gedenken Aktion Rheinland 17.04.2023

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Ansprache von Claudia Siebner, Enkelin von Aloys Odenthal,
beim Gedenken am 17.04.2023
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Ansprache der stellvertretenden Polizeipräsidentin
Silke Wehmhörner am 17.04.20233

 

„... und anstatt der Fragen ein paar Antworten geborgen,
deren Wert wir indes schon zweifelnd betrachten. ...“

Prinz Oscar von Preußen, gefallen am 5.9.1939

 

Das richtige Gedenken?
Fragen statt Antworten zum Gedenken an den 16. April 1945

von Polizeipräsident a. D. Michael Dybowski

 

16. April 1945 - Sagt Ihnen der Tag etwas? Sagt er überhaupt etwas? Haben Sie einem Gedenken in Erinnerung dieses Tages einmal beigewohnt, das Jahr für Jahr in unserer Stadt Düsseldorf geschieht, wiederholt wird nach gleichem oder ähnlichem Ritual mit Kranzniederlegungen und kurzen Ansprachen von Oberbürgermeister, Polizeipräsident oder anderen?

Ich wende mich nicht gegen Gedenken, Gedenktage, Gedenkrituale. Doch gilt es, wachsam zu sein, dass hinter und unter allem Ritualen das Anliegen selbst wach, bewusst bleibt. So bleiben - 78 Jahre ist es her - die Fragen: Woran gedenken wir? Gedenken wir wirklich? Gedenken wir richtig?

Es waren die Fragen, die dem jungen Prinz Oskar von Preußen[1] wichtiger erschienen als Antworten, als er, vierundzwanzigjährig, 1939 in den Krieg gegen Polen zog und wenige Tage darauf fiel: „ ... Wir haben nur Helm und Waffe mitgenommen und anstatt der Fragen ein paar Antworten geborgen, deren Wert wir indes schon zweifelnd betrachten. ...“.[2] Die Fragen gilt es zu behalten neben allen Antworten. Sie gilt es zu bewahren. Sie bleiben und sie drängen: „Warum?“ und „Wie?“ - auch heute.

Wir gedenken jeden 16. April des Jahres in unserer Stadt der beherzten Menschen, die sich zusammengefunden hatten, obgleich sie unterschiedlicher nicht sein konnten: Düsseldorfer Bürger unterschiedlichen Berufes, Denkens, unterschiedlicher Religion, Überzeugungen und ein hoher Polizeioffizier, Kommandeur der Schutzpolizei in unserer Stadt und damit Teil eines von den Nationalsozialisten instrumentierten, gesteuerten und benutzten Terrorwerkzeugs. Sie alle waren sich jedoch in einem einig, die schon zerstörte Stadt in einem sinnlosen „heroischen Endkampf“ vor endgültiger Zerstörung zu bewahren.

Was würden, was könnten sie uns sagen, wenn wir sie fragten - heute?

Wir haben wieder Krieg in Europa. Es sieht so aus, als hätten die Menschen aus der Geschichte nichts gelernt. Doch es sind nicht „die Menschen“, die lieber in Frieden leben wollen; es sind „die Menschen“, die einst und noch immer ihren Despoten willig und unbedacht, als hätten sie ihren eigenen Verstand abgegeben, folgen und glauben, man könnte im Krieg je etwas gewinnen und die blind sind gegenüber schon eintretenden Verlusten, die jeder Krieg - auch für den „Sieger“ - kostet.

Heute wissen wir genauer, dass unsere erste, die Weimarer Republik nicht allein durch Papen, Hindenburg und Hitler und seinen Nationalsozialisten zugrunde gerichtet wurde, sondern durch unzählige Gestrige, Verblendete und Feinde. Patrioten nannten sie sich gern, doch waren sie es? Die Weimarer Republik ist untergegangen, weil es ihr an ausreichend überzeugten und entschlossenen demokratischen Republikaner in allen Gesellschaftsschichten mangelte.

„1932 buchstäblich abgewählt worden“ ist sie - so Udo di Fabios, des Rechtswissenschaftlers und langjährigen Bundesverfassungsrichters, Fazit in seiner 2018 erschienenen lesenswerten Analyse über „Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern.“. „Damit wird die Verantwortung der Funktionseliten in Militär, Presse, Politik, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft nicht kleiner.“ und weiter: „Die liberale, demokratische und soziale Verfassungsordnung Weimars ist nicht an den Konstruktionsfehlern des rechtlichen Gründungsdokuments gescheitert. Gescheitert ist sie maßgeblich am eklatanten Versagen von Eliten und auch an einer Mentalität der Massen, die die Spielregeln des parlamentarischen Betriebs nie richtig gewollt und verstanden haben. Vor solchen Erosionstendenzen ist keine Demokratie gefeit.“.[3]

Unser Staat lebt von dem, was er selbst nicht schaffen und garantieren kann. Ernst-Wolfgang Böckenförde (* 1930, † 2019; Staats- und Verwaltungsrechtler, Rechtsphilosoph, auch Bundesverfassungsrichter) hatte dieses Erkennen - 1964 - formuliert: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“[4]

Voraussetzung für unseren freiheitlichen demokratischen Staat ist also die moralische Substanz jedes Einzelnen von uns und die Homogenität unserer Gesellschaft. Eine Homogenität - so Böckenförde - nicht als völkische, keine anderen Nationalitäten ausschließende nationalistische oder nationalsozialistische, eine Homogenität - bei aller Vielfalt der Vorstellungen - als ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl, ein „sense of belonging“ - wie Ralf Dahrendorf es nannte, eine gemeinsame und verbindliche Vorstellung davon, wie man zusammenleben will und was dafür wichtig ist. Fordert das von uns nicht Toleranz und Anerkennung von Verschiedenheit als gemeinsamer Grundhaltung? Und fordert das von uns - wollen wir in unserem freiheitlich säkularen Staat als „Sphäre geschützter Freiheit, auch der Freiheit des Denkens und Meinens, und gesicherter Gleichheit - gerade gegen die sozialen Bedingtheiten, die Ungleichheiten und Zwänge der Gesellschaft.“ (so Böckenfördes Staatsgedanke nach der Definition des Historikers Jans Nordalm) leben - nicht ebenso und untrennbar auch unser freiheitliches, demokratisches Bewusstsein, seine Wertschätzung und unsere Bereitschaft, dafür einzutreten, diese Haltung aufrecht zu halten und zu verteidigen?

Da unser Staat in und mit seiner Freiheit - eben um unserer Freiheit willen - „ein großes Wagnis“ eingegangen ist - so Böckenförde, bedarf es nicht unverzichtbar auch unserer Verantwortung, bisweilen auch unseres Mutes, wo immer es angebracht ist?

Die Männer, derer wir am 16. April gedenken, die Männer der Aktion Rheinland wie auch der Kommandeur der Schutzpolizei Franz Jürgens, haben diesen Mut gezeigt. Ihr Handeln und Eintreten für die Stadt und seiner in ihren vielen Trümmern noch lebenden Menschen war ein lebensgefährliches Wagen, denn bei allem Abwägen war nicht sicher, dass es gelang und dass sie überlebten. Fünf von ihnen mussten es mit dem Leben bezahlen.

Wie steht es um unser freiheitlich demokratischen Bewusstsein heute? Wie sieht es aus mit unserer ethischen, unser freiheitlich demokratischen, unserer republikanischen Substanz, unserem Sinn einer gemeinschaftlichen Zugehörigkeit und dem, was dazu wichtig und unverzichtbar ist? Wie steht es um unsere Akzeptanz und Toleranz von Verschiedenheit als gemeinsame Grundhaltung? Wie mit unserer Verantwortung, unserem Mut, auch Dummheit, Irrsinn zu benennen und dagegen anzukämpfen?

Nicht selten können wir heute wieder bedenkliche Töne hören, die uns in Wort und Wollen an alte frühere Zeiten erinnern, in denen demokratisches Ringen um Erkennen, Überzeugen und Werben, aber auch Kritik und Streit von ihren Feinden als unnützes „Parteigezänk“ verleumdet und gescholten wurde, um selbst zankend Zwietracht zu säen und zu forcieren. Nur Einiges: unterschiedliche Auffassungen und Diskussionen in einer Regierungskoalition - quasi immanent - werden - journalistisch aufgepeppt - als „Krise“ genannt. Ungeschicklichkeiten, unabsichtliche „faux pas“ werden als „Skandale“ uns verkauft. Das öfteren gewinnt man den Eindruck, Journalisten wie Politiker wetteiferten um das provozierendste Wort - Werbetextern gleich. In den täglichen Nachrichten überwiegen beim Sensationellen Schlimmes, Skandalträchtiges und Böses, oft über ihren sachlichen Inhalt hinaus dramatisiert, während Gutes, Beispielhaftes, Zusammenhaltendes, Gemeinsinn auf der Strecke bleiben. Warum reicht die Zeit für das Eine, aber nicht mehr das Andere?

Wir erleben Menschen, die nicht miteinander reden, miteinander diskutieren, miteinander auch streiten können. Wir erleben Menschen, die auf Gesagtes nicht eingehen, nichts einsehen, erkennen oder erörtern wollen, sondern sich des Widerparts eher mit Totschlagargumenten - mitunter bleibt es nicht dabei - erledigen wollen. Wir erleben „Talkrunden“, in denen Teilnehmer nicht mehr sachlich, aufeinander eingehend, werbend für die eigene Sicht und lösungsorientiert miteinander diskutieren, sondern bewusst provozieren, echauffieren, Banalitäten dramatisieren. Welchen Gewinn bringen sie für die Zuhörer - vom theatralischen für die Zuschauer abgesehen? Wo bleibt demokratische, wo freiheitlich gesinnte Kultur im Umgang, im Reden und Streiten miteinander? Müssten wir nicht lernen, bisweilen auch gegen den Trend begreifen, dass nicht alles, was wie Streit daherkommt, unüberwindliche Zwietracht ist?

Unqualifizierte, beleidigende Attacken gegen Politiker, auch irrationale Hasstiraden scheinen in „social medias“ zur Tagesordnung zu gehören; dabei weiß der Volksmund: „Wie der Schelm denkt, so ist er“. Was ist „Mut“, der sich feige hinter Anonymität versteckt? Wir erleben mitunter auch theatralisch hochgespielte, fast schon hysterische Empörung in Politik und Medien, gar persönliche Verletzungen, wenn es um falsches Handeln, Fehler, Versäumnisse geht - wo nüchterner Bericht, nüchternes Urteil und wohl überlegte, nüchterne - „coole“ würden junge Leute sagen - Reaktion, auch vielleicht das Klopfen an die eigene Brust angezeigter, glaubwürdiger und überzeugender wäre. „Darf es nicht was kleiner sein?“ oder „stay cool“ - ist man oft versucht zu sagen - und wie ist es mit eigenen Fehlern?.

Nach vielen Fragen eine letzte - was wäre eine Antwort in Erinnerung an die Männer des 16. April 1945 und ihrem jährlichen Gedenken? Was könnten wir mitnehmen? Vielleicht, wachsam zu bleiben, um Anfängen von Verstrickungen wehren zu können, Kontakte über Verschiedenheiten und Kontroversen hinweg zu freiheitlich und demokratisch gesinnten Menschen zu wollen und zu pflegen, letztlich bei allen Unterschieden in Auffassungen und Meinungen immer wieder Mut zu finden, zusammen zu stehen, uns auch zu verbünden und zu einigen gegen die Widersacher unserer Vielfalt, Freiheit und Demokratie und sich beherzt zu stellen der Verantwortung für die Menschen und dem Gebot der Stunde? Mit diesen Fragen und unseren ebenso fragenden Antworten werden wir ihnen nahe und unser Gedenken keine leeren Rituale bleiben.

Michael Dybowski, 16.4.2023

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[1]Ältester Sohn von Prinz Oskar von Preußen (1888-1958) und Ina Marie Gräfin von Bassewitz (1888-1973), Enkel von Ks. Wilhelm II

[2]s. Walter Bähr / Hans W. Bähr (Hrsg.): Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939/45, Tübingen 1952; auch auszugsweise abgedruckt im Nachwort von Reinhold Schneider: Die Hohenzollern, Köln: Jakob Hegner, 1953, S. 275

[3]Udo di Fabio, * 1954, Rechts- u. Sozialwissenschaftler, ehem. Bundesverfassungsrichter, Hochschullehrer, Buchautor, u.a. „Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern. Eine verfassungshistorische Analyse. München: C.H. Beck Verlag, 2018, Nachdruck 2019, S. 256;

[4]Zuerst in einem Seminarbeitrag in Ebrach 1964 verwendet, dann veröffentlicht in „Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag“. Stuttgart 1967, S.75–94; später in Ernst Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Nr. 914). Suhrkamp, Frankfurt 1991, S.92–114,112 (7. Aufl. 2019, S. 92-114, 112).